- Welche Entwicklung die medizinische Nutzung von Cannabis genommen hat
- Warum die politische Lage für Patient:innen relativ stabil ist
- Wie Cannabis im Körper wirkt und warum das Endocannabinoid-System entscheidend ist
- Wann eine Cannabistherapie sinnvoll ist – und wann nicht
- Ob die Angst vor Abhängigkeit berechtigt ist

Dr. Franjo Grotenhermen wurde für dieses Interview als Experte angefragt. Seine Aussagen basieren auf seiner fachlichen Expertise und langjährigen Erfahrung im Bereich der medizinischen Nutzung von Cannabis.
Es besteht keine weitergehende geschäftliche Verbindung zwischen Dr. Grotenhermen und DoktorABC. Die hier geäußerten Meinungen sind seine eigenen und spiegeln nicht zwangsläufig die Positionen von DoktorABC oder des Wellness-Magazins wider.
Frage:
Dr. Grotenhermen, Sie engagieren sich seit vielen Jahren für die medizinische Nutzung von Cannabis. Wie sehen Sie die aktuelle politische Debatte über eine mögliche Änderung der bestehenden Regelungen in Deutschland?
Dr. Grotenhermen:
Ich glaube nicht, dass sich an der rechtlichen Situation viel ändern wird. Vielleicht gibt es kleinere Anpassungen, aber große Reformen erwarte ich nicht. Die Regierung hat im Moment wichtigere innen- und außenpolitische Themen auf der Agenda. Aber es kann auch anders kommen, denn es gibt auch in der SPD abweichende Stimmen.
Frage:
Das heißt also, große Reformen erwarten Sie nicht. Aber wenn wir auf die letzten Jahre zurückblicken: Seit der Legalisierung von medizinischem Cannabis 2017 hat sich ja einiges getan. Welche Verbesserungen oder auch Herausforderungen sehen Sie dabei?
Cannabis als Medizin – Fortschritt oder bürokratische Hürde?
Dr. Grotenhermen:
Ja, da hat sich tatsächlich viel getan. Schon seit 1998 gab es schrittweise Verbesserungen. Damals wurde Dronabinol erstmals verschreibungsfähig. 2007 konnten Patienten eine Ausnahmeerlaubnis bei der Bundesopiumstelle beantragen, um Cannabis aus der Apotheke für eine ärztlich begleitete Selbsttherapie nach Paragraf 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz zu nutzen. Bis 2017 hatten etwas mehr als 1000 Patienten eine solche Erlaubnis bekommen.
2011 wurde mit Sativex dann ein Cannabisextrakt für die Behandlung von Spastik bei Multipler Sklerose zugelassen. Der große Durchbruch kam 2017 mit dem Gesetz, das die Ausnahmegenehmigungen überflüssig machte. Seitdem können Ärzte Cannabisblüten, -extrakte und andere cannabisbasierte Medikamente direkt verschreiben.
Unter bestimmten Voraussetzungen übernehmen die Krankenkassen die Kosten – allerdings nur in etwa zwei Dritteln der Fälle. Bei manchen Diagnosen sind die Chancen auf eine Kostenübernahme so gering, dass Ärzte bei diesen Indikationen üblicherweise gar keinen Antrag mehr stellen.
Und jetzt, mit der Legalisierung im April 2024, gibt es für Patienten zusätzlich die Möglichkeit, Cannabis selbst anzubauen oder sich einem Anbauverein anzuschließen.

Dr. Franjo Grotenhermen
Frage:
Dennoch gibt es immer wieder politische Debatten darüber, ob Cannabis-Gesetze rückgängig gemacht oder verschärft werden sollten. Was würde das für Patienten bedeuten, die auf diese Therapie angewiesen sind?
Dr. Grotenhermen:
Ich glaube nicht, dass sich an der medizinischen Nutzung viel ändern wird. Falls es eine Rücknahme gibt, dann betrifft das wahrscheinlich nur den Freizeitkonsum. Das Gesetz von 2017 wurde damals ja einstimmig im Bundestag verabschiedet – auch die CDU/CSU hat zugestimmt. Ich sehe keinen Grund, warum sie es jetzt wieder kippen sollten.
Frage:
Viele Menschen wissen nicht genau, wie medizinisches Cannabis eigentlich wirkt. Können Sie das mal erklären? Bei welchen Erkrankungen wird es besonders häufig eingesetzt?

- Erektionsstörungen
- STI Tests
- Asthma
- Übergewicht
- Bluthochdruck
- und viele mehr

Wie wirkt Cannabis im Körper?
Dr. Grotenhermen:
Gerne. Man muss zuerst zwischen der Wirkungsweise und dem Wirkspektrum unterscheiden. Die Wirkungsweise beschreibt, wie Cannabinoide im Körper wirken, während das Wirkspektrum die Vielzahl der Effekte umfasst, die dadurch ausgelöst werden.
THC ist in dieser Hinsicht ein ganz besonderes Molekül. Es gibt weltweit keine zweite Substanz, die gleichzeitig Schmerzen lindert, den Appetit anregt, die Muskeln entspannt, Übelkeit bekämpft, Entzündungen hemmt, den Augeninnendruck senkt, die Bronchien erweitert und sogar bei Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen hilft. Dieses breite pharmakologische Spektrum ist mit großem Abstand einmalig. In den letzten Jahren konnten wir feststellen, dass auch CBD vielfältige Wirkungen ausübt.
Am häufigsten wird medizinisches Cannabis bei chronischen Schmerzen eingesetzt, etwa bei Migräne oder Nervenschmerzen, gefolgt von psychische Erkrankungen wie ADHS, Depressionen oder Zwangsstörungen. Zu den Anwendungsgebieten zählen auch chronisch-entzündliche Erkrankungen wie Morbus Crohn und rheumatoide Arthritis, neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose und Epilepsie, Appetitlosigkeit und Übelkeit, um einige weitere zu nennen.
Frage:
Um das besser zu verstehen: Sie haben vorhin erwähnt, dass Cannabis so vielseitig wirkt – von Schmerztherapie über Entzündungshemmung bis hin zu psychischen Erkrankungen. Das klingt nach einem sehr komplexen Mechanismus. Liegt das an dem sogenannten Endocannabinoid-System? Können Sie erklären, welche Rolle es dabei spielt?
Dr. Grotenhermen:
Ja. Das Endocannabinoid-System ist ein wichtiges Kommunikationssystem im Körper – und das nicht nur beim Menschen, sondern auch bei vielen Tierarten. Es existiert seit Millionen von Jahren und wurde in Säugetieren, Fischen und sogar in einfachsten Lebewesen wie Polypen nachgewiesen.
Dieses System hat drei Hauptbestandteile: Rezeptoren, körpereigene Cannabinoide und Enzyme, die die Bildung und den Abbau dieser Endocannabinoide steuern.
Die CB1-Rezeptoren wurden zuerst im Gehirn entdeckt. Lange dachte man, sie kommen nur im Nervensystem vor, aber inzwischen weiß man, dass sie fast überall im Körper vorkommen. CB2-Rezeptoren dagegen sind vor allem im Immunsystem zu finden, etwa in der Milz oder auf weißen Blutkörperchen.
Die grundlegenden Funktionen des Endocannabinoidsystems sind:
- Entspannung (Senkung von Schmerz und Körpertemperatur)
- Ruhen (Reduzierung der Bewegungsaktivität)
- Anpassen/Vergessen (Erholung von innerem und äußerem Stress)
- Schutz (Verringerung der Entzündung und der übermäßigen Aktivität der Neuronen)
- Essen (Steigerung des Hungergefühls, Nahrungs- und Energiespeicherung)
Weil Cannabis genau in dieses System eingreift, kann es so vielseitig in der Medizin eingesetzt werden.

Frage:
Das klingt alles sehr vielversprechend, aber gibt es auch Menschen, bei denen eine Cannabistherapie eher nicht geeignet ist oder nur mit Vorsicht eingesetzt werden sollte?
Chancen und Risiken – Für wen ist Cannabis geeignet?
Dr. Grotenhermen:
Ja, da muss man unterscheiden. Es gibt absolute Kontraindikationen, das heißt, in diesen Fällen darf Cannabis auf keinen Fall eingesetzt werden. Dazu gehören Allergien gegen Bestandteile des Medikaments oder eine akute schizophrene Psychose.
Dann gibt es relative Kontraindikationen, wo Cannabis mit besonderer Vorsicht angewendet werden sollte. Das betrifft:
- Schwangere und stillende Frauen
- Kinder und Jugendliche
- Menschen mit schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Personen mit einer bestehenden Abhängigkeit von anderen Substanzen
- Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen
In solchen Fällen muss genau abgewogen werden, ob die Vorteile der Therapie die möglichen Risiken überwiegen.
Frage:
Trotz der vielen positiven Aspekte gibt es ja auch Bedenken. Kritiker warnen zum Beispiel vor Missbrauch oder Abhängigkeit. Ist das ein berechtigtes Risiko?
Dr. Grotenhermen:
Das ist ein berechtigter Punkt, aber das gilt grundsätzlich für viele wirksame Medikamente. Arzneimittel, die auf das zentrale Nervensystem wirken – zum Beispiel Opiate gegen Schmerzen, Benzodiazepine bei Epilepsie oder Amphetamine zur Behandlung von ADHS – können ebenfalls zu Missbrauch und Abhängigkeit führen.
THC oder THC-reiches Cannabis sind in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Allerdings ist das Abhängigkeitspotential von THC deutlich geringer als beispielsweise von Opiaten, Amphetaminen oder auch Nikotin. Wie bei anderen Medikamenten muss das Abhängigkeitsrisiko individuell bewertet und gegen den Nutzen der Therapie abgewogen werden. Deshalb erfolgt die Verschreibung von medizinischem Cannabis immer unter ärztlicher Aufsicht.
Im zweiten Teil des Interviews spricht Dr. Franjo Grotenhermen über gesellschaftliche Akzeptanz, politische Hürden und die Zukunft von Cannabis in Deutschland. Lesen Sie hier weiter!